Lebensabend

Ich fahre beruflich ziemlich viel Bahn. Eigentlich mag ich das, wenn diese Verspätung nicht immer wäre. Ich meine, ich sitze gemütlich auf meinem Sitz, kann arbeiten oder surfen, lesen oder aus dem Fenster schauen und muss nichts anderes tun. Ab und zu kommt man sogar in den Genuss anderen Menschen zuhören zu dürfen, als stiller Zuhörer in einem fremden Leben. 

Meistens vermeide ich diese Situationen. Aber letzte Woche saß ein älteres Pärchen vor mir. Die haben sich so wunderbar unterhalten, dass ich im Halbschlaf einfach nicht weghören wollte. Und ein Wort, dass immer wieder fiel und das ich nicht mehr vergessen kann ist:
Lebensabend.

Was bedeutet das eigentlich? Laut Duden (ich liebe den, der ist immer so viel sachlicher als ich) ist damit der Ruhestand gemeint, der Lebensausklang, der letzte Lebensabschnitt. Ein großes Wort also, fast angsteinflößend. Das ältere Paar war offensichtlich bereits in diesem Abschnitt angekommen und hatte so allerlei Pläne, wie es denn nun weiter gehen sollte. Eine schöne Vorstellung und doch kann ich mich damit nicht so ganz anfreunden.
Woher weiß ich denn, wann mein Lebensabend gekommen ist? Wann ich Zeit habe, mein Leben für mich zu planen und zu genießen? Und warum soll ich das unbedingt am Abend machen? Zeit ist doch eine so relative Empfindung. Manche Tage sind kürzer als andere. Einige Stunden fühlen sich an wie Minuten, Sekunden können endlos werden. Und doch läuft alles auf 24 Stunden raus. Aber wenn es doch so unterschiedlich empfunden wird, ist die Zeit dann wirklich ein Maßstab und ein messbarer Indikator? 
Lebensabende. Sonnenuntergänge. Sonnenaufgänge. Mittage und Frühstückzeit. Nachmittagsspaziergänge und Dämmershoppen. Mitternachtstanz und Morgengrauen. 

Bietet nicht jede Tageszeit etwas Wundervolles? Und ist es nicht an uns, uns Zeit zu nehmen und inne zu halten, um genau diese Zeit nicht zu verpassen? Uns nicht vom Leben überholen zu lassen, Arbeit mal Arbeit sein zu lassen und einfach Dinge tun, die wir lieben? Noch besser: Zeit mit Menschen verbringen die wir lieben? Atmen. Bewusst entschleunigen. Das Leben genießen, mit Haut und Haaren zu allen Zeiten. Einfach mal Drei gerade sein zu lassen, raus in die Natur gehen. Reisen. Alte Freunde anrufen. Einen Brief schreiben. Sport treiben. Schön Essen gehen. Dankbar sein. Lieben. Leben. Bewusst genießen. Sich annehmen. Lachen. 

All diese Dinge schieben wir viel zu häufig auf. Lassen unseren Alltag unsere Stimmung beeinflussen und vergessen, dass wir bewusst entscheiden können, wie wir leben. Wir können unser Leben genießen, ab heute, jeden Tag. Damit meine ich nicht, dass wir ständig glücklich sein werden, aber wir werden zufrieden sein. 

Und plötzlich macht mir das Wort Lebensabend auch gar keine Angst mehr. Denn ich werde einfach jede Zeit in meinem Leben kostbar machen. Und unglaublich wertvoll. So das der Abend lediglich der Abschluss eines krönenden Tages ist, der Beginn einer wundervollen Nacht. Und der Moment an dem ich zurück blicke und lachend am Meer stehe.

Selfies sind auch wunderbar in der Bahn – nur nebenbei
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